Erfahrungen mit Kindern

 

Wesentliche Impulse für die Weiterentwicklung ihrer Pädagogik verdankt die theoretisch umfassend gebildete Hochschullehrerin wiederum praktischen Erfahrungen mit Kindern. Denn Maria Montessori nimmt das Angebot einer Wohnungsbaugesellschaft an, im römischen Elendsviertel San Lorenzo eine Bewahranstalt für Kinder dort wohnender Arbeiterfamilien im Alter von zwei bis sechs Jahren zu leiten und pädagogisch zu gestalten. 1907 wird diese erste Casa dei Bambini (="Kinderhaus") eröffnet. In der Arbeit mit den geistig nicht behinderten, aber sozial benachteiligten Kindern gewinnt die italienische Ärztin und Pädagogin weiterführende Erkenntnisse.

Zentrale Bedeutung erhält ihre Beobachtung, dass sogar kleine Kinder im Alter von etwa drei Jahren — im Widerspruch zu damals herrschenden theoretischen Auffassungen — zu einer außergewöhnlichen anhaltenden Konzentration fähig sind, wenn sie Gelegenheit haben, sich in freier Wahl mit einem ihrem jeweiligen Entwicklungsbedürfnis entsprechenden Gegenstand manipulativ auseinanderzusetzen. Montessori bezeichnet dies als Phänomen der "Polarisation der Aufmerksamkeit". Sie stellt umfassende Bildungswirkungen solcher konzentrierten kindlichen Aktivitäten fest, welche die ganze Persönlichkeit des Kindes betreffen. In diesem Zusammenhang spricht sie auch von der "Normalisation" des Kindes, d.h. dem Wiederherstellen der wahren positiven Möglichkeiten, über die das Kind von Natur aus verfügt, die aber bei einer unangemessenen Behandlung durch die Erwachsenen verbogen werden ("Deviationen"). "Und von nun an" — resümiert Montessori — "war es mein Bestreben, Übungsgegenstände zu suchen, die die Konzentration ermöglichen; und ferner studierte ich gewissenhaft, welche Umgebung die günstigsten äußeren Bedingungen für diese Konzentration bietet. So begann sich meine Methode aufzubauen" (Montessori, M.: Dem Leben helfen, Kleine Schriften 3, Freiburg 1992, S.44f.).